Gestern
Persönliche Erinnerungen...


Meine Kindheit am Fluß

Wenn ich heute, von Erlangen kommend, mit dem Zug über die »Siebenbogenbrücke« meiner Geburtsstadt Fürth fahre, dann erscheint mir der Fluß, die Rednitz, die wir dabei donnernd überqueren, zwar immer noch sehr malerisch, aber doch irgendwie so schmal und unbedeutend. Wieviel anders war das dagegen in meiner Kindheit...

Ich wuchs in einem mehrstöckigen Mietshaus in der Fürther Badstraße auf, von der Rednitz trennten mich nur etwa 50 Meter. Von Anfang an habe ich den Fluß geliebt, als Teil meines täglichen Lebens betrachtet. Gleichgültig, ob es sich um seine Farben, seinen Geruch oder sein Bild im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten handelte, er gehörte zu mir. Er konnte beruhigend und anheimelnd wirken, aber auch wild, gefährlich und unberechenbar. Seine wechselnden Stimmungen beeinflußten mich, sie haben mich innerlich aufgewühlt oder besänftigt, selten aber gleichgültig gelassen. Die etwa 20 Meter breite Rednitz samt ihrer Flußauen auf einer Länge von ungefähr drei Kilometern, das war ein wichtiger Teil meiner ureigensten kleinen Welt.

In den oft glühendheißen Sommern der 50er und frühen 60er Jahre eilte ich gleich nach der Schule barfuß, nur mit einem Badeanzug bekleidet und einem großen Handtuch über der Schulter, die zahlreichen Stufen von der Badstraße zum Flußbad hinunter, dessen Eingang sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite unseres Hauses befand. Obwohl von meiner besorgten Mutter vorsorglich mit einem ziemlich eklig riechenden Nußöl eingerieben, holte ich mir an solchen Badetagen manchmal fürchterliche Sonnenbrände.

Das Ostufer der Rednitz war im Flußbad teilweise mit schon stark bemoosten Steinen eingefaßt. Hier standen auch die Holzbaracken, die als Umkleidekabinen dienten und auf ihren Veranden Gelegenheit zum Sonnenbaden boten. Das naturbelassene Westufer erreichte man durch das überqueren des Flusses über eine schwankende, glitschige Holzbrücke ohne Geländer, an der beidseitig große Holzfässer befestigt waren. Es war ein beliebtes Spiel von uns Kindern, sich gegenseitig von der Brücke ins Wasser zu stoßen. Sie bildete gleichzeitig die Begrenzung des Flußbades, und man durfte nördlich davon nicht ins Wasser gehen. Ein Grund dafür war, daß sich etwa 300 Meter flußabwärts ein großes Wehr befand, das besonders für Kinder oder Nichtschwimmer gefährlich werden konnte.

Zwischen dem Ende des Bades und dem Wehr überspannte eine Brücke für Fußgänger und Radfahrer den Fluß, der sogenannte »Hardsteg«, der über den nördlichen Wiesengrund verlief, vorbei am »Waldmannsweiher«. Dieser von mächtigen Trauerweiden umgebene kleine See war eigentlich ein Flußarm der Rednitz, der durch Verlandung seine Verbindung zum Hauptbett des Flusses verloren hatte, ein Altwasser. Dem Volksmund nach wurde er von warmen Quellen gespeist und sollte ungeheuer tief sein. Um ihn rankten sich auch manche Sagen und Schauergeschichten.

Doch zurück zum Sommer im Flußbad: Meine ersten Schwimmversuche machte ich hier, an der »Angel« eines braungebrannten, weißgekleideten Bademeisters zappelnd, der langsam am Flußufer entlang ging und mir aufmunternde Worte zurief. Da mein Vater mir und meinem Bruder jeweils zehn Mark versprochen hatte, wenn wir 50 Meter ohne Hilfe schwimmen könnten, dauerte es nicht allzu lange, bis wir dieses Ziel erreicht hatten. Zehn Mark waren für uns und für damalige Verhältnisse eine beachtliche Summe. Nun genoß ich es, mich auf dem Rücken liegend mit der sanften Strömung flußabwärts treiben zu lassen und dabei in den blauen Sommerhimmel zu schauen oder den Flug der Schwalben zu verfolgen. Manchmal stieg mir dabei ein herber, modriger Geruch in die Nase, den ich bis heute nicht vergessen habe. Merkwürdigerweise ist es vor allem dieser Geruch, an den ich mich besser als an vieles andere erinnere.

Ein unbeschreibliches Gefühl war es auch, in der Mitte des Flusses zu stehen, die Füße im schlammigen, morastigen Grund. Ich hatte das Empfinden, jederzeit auf ein schleimiges Tier oder etwas anderes Unheimliches zu treten, und gleichzeitig war es doch schön, eine sinnliche Erfahrung, den weichen Schlamm zwischen den Zehen zu spüren und von den Wellen umschmeichelt zu werden. Jeder Schritt war ein Schritt ins Ungewisse, denn man wußte ja nie genau, wie tief die nächste Stelle sein würde. Wie langweilig ist dagegen das Baden in einem betonierten Becken! Das 1955 zusätzlich eröffnete moderne »Bad am Scherbsgraben« konnte mir niemals den geliebten Fluß ersetzen, es war für mich langweilig und steril. So blieb ich noch bis zu seiner Schließung 1968 »meinem« Flußbad treu. Zu Teenagern geworden, lagen wir mit Freundinnen und Freunden stundenlang selbstvergessen unter den riesigen, schattenspendenden Blätterdächern der Laubbäume auf der weiten Liegewiese des Flußbades und gaben uns unseren hemmungslosen Tagträumen hin. Ab und zu flog einer der heute so seiteil gewordenen bunten Schmetterlinge oder eine schillernde Libelle an uns vorbei und setzte sich auf unsere nassen Körper. Die ersten zarten, gelegentlich auch derben Annäherungsversuche der Jungs wurden hier gemacht, der erste Liebeskummer wurde durchlitten.

Nicht sehen lassen durfte ich mich bei diesen Begegnunger erotischer Natur von meinem sonst sehr geliebten Großvater, der auch noch im hohen Alter regelmäßig das Flußbad aufsuchte und dort seine Runden schwamm. Einmal verleugnete ich ihn sogar, tat so, als ob ich ihn nicht kennen würde. Das war jener Augenblick, als ihm nach einem kühnen Kopfsprung von einem der Holzfässer seine von meiner Großmutter liebevoll gestrickte braune Badehose bis in die Kniekehlen rutschte, weil der Gummizug gerissen war. Beim Herausklettern aus dem Wasser stand er einige Sekunden splitternackt da. Ich habe mich entsetzlich geschämt und, statt zu helfen, ihn in dieser unerfreulichen Situation einfach sich selbst und dem Spott der Umstehenden überlassen.

Noch ein weiteres Familienmitglied, nämlich unsere Schäferhündin Rolli, liebte es, im Fluß zu schwimmen. Da sie dies im öffentlichen Flußbad nicht durfte, stürzte sie sich bei unseren gemeinsamen Spaziergängen an der Rednitz oberhalb der Siebenbogenbrücke in die Fluten. Vergeblich versuchte sie dabei zuweilen, eine der großen braunen Bisamratten, einen Fisch oder Frosch zu fangen. Bei starker Strömung hatte sie nicht selten Mühe, das rettende Ufer zu erreichen, während ich angstvoll zusah. Eigentlich war das Baden von Haustieren im Fluß natürlich bereits in damaligen Zeiten streng verboten, aber kaum jemand hielt sich daran.

Jeder noch so schöne Sommer ging auch damals irgendwann zu Ende. Von meinem Zimmer im zweiten Stock aus konnte ich zwischen zwei Häuserzeilen hindurch auf den Fluß sehen. Im Herbst, wenn sich die Blätter der zahlreichen Laubbäume am Ufer bunt färbten, erlebte ich im sonst oft so grauen Fürth meinen Indian Summer. Abends jedoch stiegen dichte, manchmal undurchdringliche Nebelschwaden vom Wasser auf, das unwiderrufliche Ende des Sommers kündigte sich an.

In den frühen Kinderjahren, wenn am 11. November der fränkische St. Martin, der Pelzmärtl, kam, drohte er damit, mich bei Ünfolgsamkeit gegenüber Eltern oder Großeltern in seinem großen Sack mitzunehmen und in die Rednitz oder den angrenzenden Waldmannsweiher zu werfen. In meiner Vorstellung sah ich mich langsam wie einen Stein auf den unermeßlich tiefen Grund des Wassers sinken und dort für alle Zeiten verschwinden, so wie es einem Fuhrwerk samt Fahrer und Besatzung ergangen sein soll.

Die verwilderten Gebüsche an den Ufern des Flusses waren in meiner Phantasie auch die Heimat eines typisch fränkischen Geschöpfes und Ungeheuers, des sog. Nachtgiegers. Den Erzählungen meiner Großmutter nach trieb er in den Flußauen sein Unwesen, und ich stellte ihn mir ungefähr wie einen riesigenHahn mit feuerrotem, häßlichein und geschwollenem Kamm und Kehllappen vor. Unzählige Male träumte ich von diesem Untier und kann bis heute nicht verstehen, wie mich meine sonst so verständnisvoile, fürsorgliche Großmutter derartig ängstigen konnte. Außer dem Nachtgiegers bevölkerte meine rege Einbildungskraft das Flußtal mit Wassergeistern, Nixen und sogar einem Flußgott.

Leider froren die Rednitz und der Waldmannsweiher im Winter nur selten zu, und wenn, war die Eisdecke so dünn, daß sie einen nicht trug. In manchen Wintern sprengte die Feuerwehr jedoch die Wiesen westlich des Hardstegs mit Wasser, so daß man dort Schlittschuh laufen, Eishockey spielen oder auch nur »hetscheln« konnte. Letztere Fortbewegungsart erfreute sich großer Beliebtheit. Es herrschte ein reges Treiben auf dem Eis. Man vernahm das rhythmische Geräusch der Schlittschuhkufen, lachende und schreiende Kinderstimmen, und das Eis glitzerte in der hellen Wintersonne.

Im Frühling führte die Rednitz oft starkes Hochwasser, das weite Teile des Wiesengrundes überschwemmte und es zu einem Abenteuer machte, z.B. den 323m langen und 2,5m breiten Hardsteg zu überqueren. Gemeinsam mit meinem jüngeren Bruder wagte ich mich trotzdem darauf und genoß die Gefahr und besonders das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Bisweilen schwappte die dunkelbraune, trübe Brühe bis auf den Steg, und das tobende Wasser, in dem manchmal tote Ratten oder Fische mit aufgeblähten Bäuchen trieben, faszinierte uns. Wir stellten uns immer wieder vor, wie es wäre, jetzt hineinzufallen und von dem gurgelnden Sog des Wassers ohne Aussicht auf Rettung mitgerissen zu werden. Nicht nur einmal konnten wir in der Zeitung lesen, daß ein Kind oder ein Betrunkener in den zum reißenden Strom angeschwollenen Fluß gefallen und grausam ertrunken war. Auch Berichte über Selbstmörder, die dann als gräßlich entstellte Wasserleichen aus dem Fluß gezogen wurden, ließen uns schaudern und beflügelten doch gleichzeitig unsere Phantasie.

Besonders unheimlich war es, nachts im Schein von nur wenigen schwach erleuchteten Laternen die überfluteten Wiesen auf dem Hardsteg beim Nachhauseweg vom Hardkino oder von einer Freundin zu überqueren. Anschließend konnte man es sich zu Hause am warmen Ofen erst so richtig gemütlich machen! Seit 16 Jahren lebe ich nun wieder ganz in der Nähe eines anderen Gewässers, der Schwabach in Uttenreuth bei Erlangen. Im Vergleich zur Fürther Rednitz ist sie nur ein kleiner, meist sanft und träge dahinfließender Bach, aber ihr Anblick erweckt bei mir Erinnerungen an die vielen unbeschwerten, glücklichen Stunden, die ich während meiner Kindheit und Jugend am Fluß verbracht habe. Kein noch so gewaltiger Strom oder großer See, auch nicht das Erlebnis des Meeres konnten mir in meinem späteren Leben den Zauber dieser Zeit wiederbringen, die Liebe zur Natur und besonders zum Wasser aber ist geblieben.

Aus der Anthologie »Neue Literatur - Herbst 1998«, erschienen im Fouqué - Literaturverlag

Uttenreuth, im Jahre 1998

Silvija Rink (geb. 1947)

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