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Persönliche Erinnerungen...


Freibad - Zahlbad

Im gesamten deutschen Sprachraum versteht man unter einem »Freibad« ein Schwimmbad im Freien. Nicht so in Fürth. Zumindest bis vor wenigen Jahren nicht. Für einen alten Fürther war und ist ein »Freibad« ein Bad, das man umsonst, also ohne Eintritt, nutzen darf. Im Gegensatz zum »Zahlbad«, für dessen Nutzung man, wie der Name sagt, bezahlen muss.

Allerdings musste ich die Erfahrung machen, dass man sich mit heimatlichen Begriffen durchaus blamieren kann. So wie es mir passierte, als ich das erstemal außerhalb Fürths ein Schwimmbad besuchte. Obwohl in großen Lettern »Freibad« über dem Eingang stand, wollte eine Frau am Eingang Geld von mir. Als ich sie auf ihren Irrtum aufmerksam machte und darauf hinwies, dass ich nicht ins »Zahlbad« wolle, sondern eben ins angeschriebene Freibad, schaute sie mich mit großen Augen verständnislos an. Dann fragte sie mich, was ich denn für ein Hinterwäldler sei. Die Umstehenden lachten und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, so sehr genierte ich mich, wie der Fürther es nennt, wenn er hoffnungslos verlegen ist. Zumindest wusste ich ab diesem Tag, dass das Gegensatzpaar »Freibad - Zahlbad« ein Ur-Fürther Phänomen ist.

Für einen Fürther in der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es außer seiner Zinkbadewanne, wenn er denn eine hatte, nur drei Arten von Bädern: das kostenlose Freibad, das kostenpflichtige Zahlbad, beides Flussbäder an der Rednitz und die Brause- und Wannenbäder in der Stadt für die Leute ohne Badewanne zuhause. Hallenbäder waren etwas für Weichlinge oder Nürnberger.

Das Freibad am Fluss war im Sommer mein zweites zuhause, vor allem in den Ferien. Das flussaufwärts direkt daran angrenzende Zahlbad war eine andere Welt, zwar mit Sichtkontakt, aber dennoch unendlich weit weg. Wofür die Leute bezahlten, um im gleichen Fluss zu baden, wie die anderen im Freibad, fand ich erst später heraus. Dort gab es Einzelumkleidekabinen, Liegestühle und viele Duschen. Bei uns gab es nur zwei große, nach Männlein und Weiblein getrennte Gemeinschaftsumkleideräume und einige Plumpsklos in der Holzbaracke. Außerdem langgestreckte, an einer Seite offene Holzverschläge mit Sitzbrettern. Dort fand man, wenn der Sonnenstand es zuließ, Schatten und vor allem diente es uns als Fluchtpunkt bei plötzlich einsetzenden Sommergewittern.

An den alten Bretterwänden waren in regelmäßigen Abständen Warnungen in Schablonenschrift zu lesen. Die eine lautete »Feind hört mit!«, die andere »Achtung Taschendiebe!« Die erste war in den 1950er Jahren nicht mehr ganz aktuell, die zweite Warnung im Freibad wohl ziemlich überflüssig. Wer hier Badegast war, bei dem gab es in der Regel nicht viel zu holen. Selten war der Spruch, »Einem Nackten kann man nicht in die Tasche greifen« zutreffender als hier.

Auf dieser Seite des Flusses, mit den Baracken und Holzverschlägen und der hohen Ufermauer hielt ich mich jedoch nur selten auf. Mein »Reich« lag auf der anderen Seite, die man nur über einen auf Fässern schwimmenden Holzsteg erreichen konnte. Nach der Ankunft im Bad ging es deshalb immer direkt über den Steg in unseren Bereich, der sich am Waldmannsweiher entlang zog und mit alten Bäumen und Sträuchern bewachsen war. Dort gab es auch ein sandiges Faustballfeld, aber da spielten meistens Erwachsene. Wir Kinder brauchten nicht einmal die Gemeinschaftsumkleidekabinen, weil wir unsere Badesachen sowieso unter den Kleidern trugen und diese erst wieder anzogen, wenn die Badehose trocken war.

Die heute altertümlich anmutende Flussidylle änderte sich Ende der 50er Jahre, als man gleich neben den bestehenden Bädern das neue Bad am Scherbsgraben baute. Wie immer bei Neuerungen, überwog bei den Leuten der Fürther Altstadt zuerst die Skepsis. Vor allem die Tatsache, dass man das neue Schwimmbad auf einer ehemaligen Mülldeponie baute, sorgte für Befürchtungen. So mancher hatte doch arge Bedenken, ob das Liegen auf diesen Wiesen wirklich ungefährlich war und befürchtete auf Müll zu stoßen, wenn er seinen Sonnenschirm in den Boden rammte. Uns Kinder interessierte das allerdings überhaupt nicht. Wir überlegten vielmehr, wie man die neuen Badefreuden zum Nulltarif genießen könnte und das sog. »Schlupfen«, also das widerrechtliche Wechseln vom Freibad ins neue Zahlbad war das Abenteuer der Stunde. Viele fleißige Kinder, die eigentlich schon einige Jahre dem Sandkastenalter entwachsen waren, griffen nun wieder zum Schaufelchen und gruben sich emsig unter den trennenden Zaun. Dabei ging es meist gar nicht darum, ins neue Bad zu kommen, es war der sportliche Ehrgeiz der uns trieb. Wir wollten es einfach schaffen. In Wirklichkeit liebten wir unser Freibad am Fluss mit seiner schattigen Wiese, den Bäumen und Sträuchern und den Verstecken in den Büschen. Vor allem, weil es immer leerer wurde und sogar am Faustballfeld gab es meist keine Warteschlangen mehr, weil alle ins neue Bad strebten.

Doch zwei Ereignisse sollten meine Liebe zum alten Bad bald trüben. Mein Cousin Klaus überlebte mit viel Glück einen Kopfsprung von der Ufermauer auf einen Stein im Fluss und kurze Zeit darauf wäre ich fast ertrunken. Ein Schulfreund, der Nichtschwimmer war, hatte sich mit mir in tieferes Wasser gewagt, sich dabei mit den Füßen immer von einem Stein am Grund zum nächsten tastend. Plötzlich war kein Stein mehr da und er klammerte sich in seiner Panik an mich und zog uns beide unter Wasser. Glücklicherweise beobachtete ein Mann von der Ufermauer aus das Geschehen, stieg zu uns ins Wasser und zog uns heraus. Prustend und vor Angst völlig fertig, sagte ich Danke und eilte beschämt zu meiner Decke. Ich bin meinem unbekannten Retter heute noch dankbar, es hätte mein frühes Ende sein können. Von da an kaufte ich mir eine Dauerkarte fürs neue Bad, wo man wenigsten im Becken den Grund sehen konnte. Zumindest wenn nicht so viele Leute drin waren. Außerdem war dort mehr los, was mich mit zunehmenden Alter natürlich interessierte.

Apropos zunehmendes Alter: Als ich vierzehn war, »erbte« ich von einem Klassenkameraden einen ungewöhnlichen Job. Ihm selbst war die ständige Verpflichtung wohl zu viel Stress, vielleicht war auch sein Taschengeld erhöht worden, auf jeden Fall durfte ich seine Arbeit übernehmen. Und was für eine Arbeit! Ich wurde Gehilfe »der Fimbl«, der Fürther Marktfrau schlechthin. Ihre Markenzeichen waren das über der Stirn zusammengebundene Kopftuch und ihre »Goschn«, d.h. ihr loses Mundwerk. Meine Aufgabe war es, für fünf Mark jeden Tag nach Marktschluss an der Fürther Freiheit anzutreten und den Obst- und Gemüsestand mit abzubauen. Dann wurde alles auf einen großen hölzernen Wagen geladen, den ich in die Friedrichstraße zog, wo die Fimbl ihr Lager in einem Hinterhof hatte. Es waren immer zwei Fuhren. Die erste mit dem übrig gebliebenen Obst und Gemüse, die zweite mit den Standutensilien einschließlich der riesigen Sonnenschirme. Der Wagen mit seinen eisenbeschlagenen Holzspeichenrädern war nur schwer über das Kopfsteinpflaster zu ziehen, vor allem wenn man dabei auch noch auf den Verkehr achten musste. Aber mit der Zeit merkte ich, dass man mir immer Vorfahrt gewährte, weil wohl keiner riskierte, sein Auto an dem schweren Holzwagen zu verbeulen. Ich machte diese Arbeit von Montag bis Freitag, am Samstag hatte ich frei, und kam so auf die für mich enorme Summe von 25 Mark wöchentlich. Noch besser kam es in den Ferien, weil ich dann auch in der Frühe antrat, um den Stand mit aufzubauen. Dabei lernte ich, dass es wesentlich zeitintensiver ist, eine Sache aufzubauen, als sie abzuräumen.

Der Lohn für meine Mühen waren nicht nur weitere fünf Mark pro Tag, sondern auch noch Naturalien, d.h. ich durfte mir Obst aussuchen. Aber ich brauchte nicht suchen, denn ich nahm jeden Tag das gleiche: eine große, grüne Melone. Die nahm ich dann mit ins Schwimmbad, womit ich wieder bei meiner eigentlichen Geschichte bin. Melonen waren damals nicht gerade das übliche Obst, das Vierzehnjährige von ihren Eltern mit ins Schwimmbad bekamen, da überwogen doch Äpfel und Bananen. Mit meinem Finndolch, Beutestück aus irgendeinem Tauschhandel, teilte ich fachmännisch die Melone in viele kleine Scheiben und erfreute mich so zunehmender Beliebtheit, auch beim weiblichen Geschlecht. Leider musste ich jeden Tag das Bad schon kurz vor sechs Uhr verlassen, weil ich meinen Dienst bei »der Fimbl« auf der Fürther Freiheit anzutreten hatte. Wenn das Wetter passte, ging ich danach noch mal ins Bad. Durch meine Arbeit kam ich während der Ferien auf sagenhafte fünfzig Mark pro Woche. Natürlich brachte ich, ganz in der Wirtschaftstradition des großen Fürthers Ludwig Erhard, dieses Geld unmittelbar in den Warenkreislauf ein und ließ auch Ausländern etwas zukommen, in dem ich massenhaft Schallplatten von den Beatles, Rolling Stones und anderen englischen und amerikanischen Rockstars kaufte.

Zwei Jahre pendelte ich in den Sommerferien hin und her, baute morgens den Marktstand »der Fimbl« auf, ging ins Schwimmbad, kehrte zur Freiheit zurück, um den Marktstand abzubauen und ging meist noch mal ins Bad, bis auch ich diesen Job an einen anderen, jüngeren »vererbte«. Ich vermute, diese Tradition hat sich in Fürth noch lange erhalten, denn auch nach vielen Jahren sah ich immer wieder nach Marktschluss junge Burschen, die den hölzernen Wagen »der Fimbl« beluden und halsbrecherisch verkehrsgefährdend in die Friedrichstraße zogen.

Aus dem Erzählungsband »Hoffen kostet nichts«

Binzwangen, im Jahre 2002

Gerd Scherm (geb. 1950)

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